Die neuen Wanderer im Geisterreich

"Eigentlich interessiert mich nur die Revolution." Aufgefordert, ihren Vortrag frei zu halten, hatte Louise längst alle floskelhaften Wendungen verbraucht. Nun erschrak sie vor ihrer eigenen Offenheit. Allgemeines Schweigen, Kaja überlegte erkennbar, ob sie dazu etwas Einordnendes sagen sollte, doch die Generalin war schneller.

"And so do I", sagte die Amerikanerin in der Phantasieuniform und setzte schwungvoll ihre Unterschrift unter ein vor ihr liegendes Dokument:

Friedrich oder August - Untersuchung zu Identifikationsmustern prekarisierter Mitteleuropäer im Bezug auf Leitfiguren aus Mittelalter und Barock.

Erna verstand nicht so recht, worum es ging, sie merkte nur, dass sich die Anspannung löste, unter der ihre beiden Kolleginnen seit Tagen gestanden hatten. Kaja unterzeichnete kurz, Louise verschnörkelt und Erna sorgfältig. Die Generalin telefonierte knapp, worauf ihr jugendlicher Adjutant eintrat und Sekt in schlanken Gläsern servierte. Man trank auf gutes Gelingen, vertrauensvolle Zusammenarbeit und allerlei Gefühliges. Kaja fiel immer noch ein Trinkspruch ein, während Erna ein ungutes Gefühl beschlich: Da saßen sie hier in der Europa-Zentrale eines berüchtigten Söldnerkorızerns und hatten gerade einen unklaren Vertrag auf Englisch unterschrieben.

Und nun sollten sie auch noch eingekleidet werden: Helme, Seile, Lampen und Rucksäcke für die beantragte Berg- und Höhlentour. Die Generalin war am Umsatz beteiligt, deshalb schleppte der Adjutant immer noch mehr Ausrüstungsstücke aus dem Keller des alten Kasernenbaus zu Kajas rotem Kleinwagen.

"Who is the Ortskraft?", wollte er dann wissen. Erna meldete sich zaghaft. Sie sollte gleich eine schusssichere Weste anprobieren.

"Ich habe nicht vor, auf mich schießen zu lassen!", protestierte Erna.

"Das kannst du dir nicht immer aussuchen", beschied Kaja kichernd. Erna erschrak und verstummte.

Eine Viertelstunde später waren sie schon wieder auf der Autobahn, rollten zügig aus der westdeutschen Provinz in die ostdeutsche. An einer Raststätte hielten sie nur zum Gang auf die Toilette. Sie hätte, sagte Kaja, es auch lieber ruhig angehen lassen, doch der nächste Termin sei schon heute Abend: eine nachgestellte Bärenjagd am Hofe Augusts von Sachsen-Weißenfels.

 

"Ihre Referenzen sind ja tadellos, aber um es ehrlich zu sagen: Ihr Body-Mass-Index passt nicht zu unserem Unternehmen." Elwin schwieg betroffen. Die Jacke seines Jugendweihe-Anzugs ließ sich zwar längst nicht mehr schließen und auch den Hosenbund hatte Mutti mit ein paar unauffälligen Stoffkeilen wieder passend gemacht, aber für so dick hätte er sich nun doch nicht gehalten.

"Ich denke, Sie können die Wahrheit vertragen", meinte der ältliche Personalchef jovial. Elwin war nicht gewillt, dazu noch irgendetwas zu sagen. Der Bewerber verabschiedete sich knapp und verließ äußerlich unbewegt das kleine Büro im städtischen Gewerbegebiet.

Der nächste Linienbus würde auch erst in einer dreiviertel Stunde fahren. Grummelnd überquerte Elwin die neue Autobahnbrücke und machte sich zu Fuß auf den Weg in die Stadt. Unabgeerntete Rapsfelder dörrten vor sich hin, Kleingärten und Obstwiesen verwilderten idyllisch. Imbissbuden boten ihre kalorienreichen Verlockungen an, doch Elwin war der Appetit gründlich vergangen.

Nach mehreren Kilometern unter zunehmend bedecktem Himmel erreichte er die Endhaltestelle der Straßenbahn. Die fuhr auch bald ab und eilte durch stille Vorstädte dem alten Stadtzentrum entgegen. Am Markt stieg Elwin aus und burnmelte ziellos an den Schaufenstern entlang, getraute sich schlicht nicht, nach Hause zu gehen ...