Biedermann und das abgebrannte Leseland

Am Wochenende luden die Wuppertaler Marx-Engels-Stiftung und der Rotfuchs-Förderverein zu einer Tagung nach Leipzig ein. Unter dem Motto „Leseland ist abgebrannt?" ging es um den Umgang mit DDR-Literatur nach 1990.

Veranstaltungsort war die Villa Davignon, idyllisch direkt am neuen Stadthafen gelegen, was bei den etwa 70 Tagungsteilnehmern den Eindruck milderte, zu den "Verlierern der Geschichte" zu gehören.
Zum Einstieg las der Leipziger Autor Norbert Marohn (mit H) aus seinem 2016 erschienenen Essayband „Die Angst vorm andern". Grundthese: Die ANGST VORM FREMDEN sei die Grundangst der DDR gewesen, sozusagen ihr Bewusstsein - abzulesen etwa am Umgang mit den Vertragsarbeitern.

Die Berliner Romanistin Sabine Kebir stellte ihr umfangreiches Buch über Leben und Werk der Elfriede Brüning vor (ebenfalls 2016 erschienen). Elfriede Brünings Grundthema war die arbeitende Frau, ihr widmete sie 88 Jahre ihres 103-jährigen Autorinnenlebens. Sogar in den ominösen 12 Jahren veröffentlichte sie drei dicke (Frauen-)Romane, in der DDR verkaufte sie eineinhalb Millionen Bücher. Auch in der Kohlära war sie erfolgreich, etwa mit ihren Nachwende-Erzählungen unter dem Titel „Jeder lebt für sich allein“.

Anschließend berichtete Eulenspiegel-Verleger Matthias Oehme über den Umgang mit DDR-Literatur nach 1990. DDR-Kinderbücher erfuhren auch nach der Wende immer wieder Neuauflagen, Bücher wie "Alfons Zitterbacke" wurden neu verfilmt. DDR-Belletristik für Erwachsene wurde bestenfalls "ordnungsgemäß makuliert", gerne auch auf Müllhalden in die Landschaft gekippt. Schon der Kanon der DDR-Literatur war ein übergestülpter - sowohl von SED-Ideologen, als auch von westlichen Ideologieproduzenten. Dann das Wellenförmige der Literaturproduktion Ost: Aufbauliteratur, Ankunftsliteratur, Biermann-Hype, Ausreisewelle. Sogar die an sich wohltuende Lyrikwelle versickerte nach einigen Jahren rückstandslos in der kargen Landschaft. Im Rückblick waren die 1970er und 1980er die fruchtbaren Jahrzehnte mit z. B. Ulrich Plenzdorf, Brigitte Reimann, Erich Loest, Hanns Cibulka, Sarah Kirsch und Christa Wolf.  


"Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd." So warnt Chista Wolf in ihrem Roman Kindheitsmuster von 1976. Die DDR-Literatur ist dabei ein "abgeschlossenes Sammelgebiet", wie wir Briefmarkensammler sagen. Sowohl "Angst vor dem Fremden", als auch gleichgültiges Fremdheitsempfinden werden ihrem Wert nicht gerecht.

Abschließend berichtete der Literaturwissenschaftler Kai Köhler über DDR-Literatur in Lexika und Nachschlagewerken seit 1990. Dabei musste er sich beeilen, die geschichtspolitischen Linien nachzuziehen, denn auch die gut recherchierten und lektorierten Nachschlagewerke befinden sich in der Abwicklung. Das Verlusterleben betrifft hier sowohl den Gegenstand DDR-Literatur, als auch das Medium bzw. die Textsorte qualifiziertes Nachschlagewerk. Der Trend zur Oberflächlichkeit geht weiter und macht auch vor Standardwerken wie den "Literaturgeschichte Basics" aus dem UTB-Verlag nicht halt. Leuchttürme sind hier thematische Bände, die sich auf einige wenige Autoren beschränken, wie "Literatur ohne Land" im Basisdruck-Verlag. Im Idealfall lassen sich die Sammelband-Autoren von der "nach- und weiterwirkenden Lebendigkeit eines in der DDR geborenen, vielgestaltigen Schreibens" (Mirjam Meuser) anstecken ...

 

Literatur ohne Land